Handstand: Stell‘ deine Welt auf den Kopf
Wenn du bis zu deinem 12. Lebensjahr noch keinen Handstand gemacht hast, wirst du wahrscheinlich nie einen machen. Das war meine Meinung. Ich habe mich schon vor langer Zeit von der Idee, dass ich einen Handstand machen würde, verabschiedet. Aber Kerstin Oschabnig will das ändern.
Jeder kann an Kerstins Handstand-Workshop im Studio 58 am Rathaus Neukölln in Berlin teilnehmen. Das Studio 58 ist ein verstecktes Juwel: Es befindet sich in eigener Hand und hat es sich zum Ziel gesetzt, professionellen Bühnenkünstlern einen erschwinglichen Raum zum Ausprobieren zu bieten. Er bietet Platz für Tänzer, Zirkuskünstler, Yogis, Schauspieler, Therapeuten und Akrobaten, um Ideen auszutauschen und anderen ihr Talent beizubringen. Jeder kann zu jeder Zeit den Stundenplan des Studio 58 ansehen und bei den jeweiligen Kursen mitmachen.
So mietet Kerstin jeden Dienstag um 18 Uhr den Raum, um ihre Handstand-Erfahrungen zu teilen. Der Raum ist hell, geräumig und der Boden gepolstert – eine ausgezeichnete Nachricht für Menschen wie mich. Ich habe keinen Zweifel, dass ich kopfüber zusammenbrechen werde, also ist ein bisschen Polsterung genau richtig.
Wir sind ca. 20 Teilnehmer in dem Kurs und versammeln uns nervös um die zierliche Kerstin. Der Unterricht beginnt mit dem Aufwärmen der Handgelenke. Wir knien auf allen Vieren und legen unsere Handflächen auf den gepolsterten Boden. „Verlagere dein Gewicht von vorne nach hinten, damit du den Druck auf den Handgelenken spürst“, erklärt sie. Dann drehen wir unsere Handflächen nach oben, eine Position, die weit weniger bequem ist. Ich spüre, wie sich meine Handgelenke dehnen. Es ist ein neues Gefühl und ich bekomme einen Vorgeschmack, wie anspruchsvoll die nächsten 90 Minuten des Workshops sein werden.
„Als Anfänger gewöhnt ihr euch heute einfach daran, kopfüber zu sein“, erklärt Kerstin. „Es ist eigentlich genauso, wie auf den Füßen zu stehen. Dazu braucht man keine Kraft – auch wenn die Muskeln arbeiten. Mit Handständen ist es das gleiche, nur mit den Armen. Du musst nur lernen, wie man es macht. Es ist nur nicht natürlich… noch nicht.“
Ich fühle mich ermutigt. Als Kind war ich nie eine, die ein Rad schlagen konnte, geschweige denn Backflips machte. Ich hatte immer zu viel Angst, kopfüber zu sein – aber so wie Kerstin es erklärt, kann das jeder schaffen. Ich muss nur lernen, wie.
„Jetzt tut euch zu zweit zusammen und stellt euch an die Wand.“ Ich tu mich mit einer jungen Frau namens Caroline zusammen, die zum Glück genauso nervös ist, wie ich. Kerstin macht uns vor, wie man die Hände flach auf den Boden legt, den Kopf nach unten und die Beine hochwirbelt. Im besten Fall steht dann meine Partnerin Caroline da, um meine Beine zu greifen und mir zu helfen, sie gegen die Wand zu balancieren.
Der erste Versuch ist jedoch eine Katastrophe. Ich wage es einfach nicht zu glaube, dass ich mich selbst halten kann und habe Angst auf meinen Kopf zu fallen. Ich platziere meine Hände auf den Boden, schwinge meine Beine hoch und sobald ich fühle, dass Caroline meine Beine greift, flippe ich aus und komme wieder runter. Der zweite Versuch ist schon etwas erfolgreicher – ich bekomme meine Beine höher und bekomme ein Gefühl dafür in der Luft zu sein.
Bei Versuch drei ziehe ich es durch. Ich schwinge die Beine hoch, Caroline packt sie und ich stehe verkehrt herum in einem Handstand an der Wand. Meine Schultern erleben eine ganz neue Art der Belastung und fühlen sich an, als wären sie dem nicht gewachsen. Also komme ich sofort wieder runter. Aber ich hätte es fast geschafft! Ich fühle mich so glücklich… und es sind nur 30 Minuten vergangen.
Jetzt ist Caroline an der Reihe es zu versuchen. Ich stelle mich neben sie, als Unterstützung und ermutige sie zu jedem Versuch. Sie ist etwas nervöser als ich und schafft es nicht ganz in den Handstand, aber verbessert sich sichtbar mit jedem Versuch.
Als ich wieder an der Reihe bin, fühle ich mich schon viel selbstbewusster. Als ich meine Beine hochschwinge, schaffe ich es mich daran zu erinnern mein Core und meine Schultermuskeln zu aktivieren und bleibe mindestens 2 Sekunden lang in der Handstand-Position. Es ist ein absolutes Wunder.
Kerstin ist da, um jedem, der es braucht während des Unterrichtes Unterstützung zu bieten. Ihr Wissen und ihr Rat sind so nützlich, dass jedes Mal, wenn sie einen Hinweis gibt, sich meine Haltung sofort verbessert. Diese Frau muss magische Kräfte haben – ich hätte einfach nie gedacht, dass ich wirklich in der Lage bin einen Handstand zu machen.
Kerstins Reise in die Akrobatik begann später, als die der Meisten. „Ich habe vor fünf Jahren begonnen, als ich 23 Jahre alt war und in der kleinen Stadt namens Graz in Österreich lebte. Ich habe mit Capoeira angefangen, aber da hat mir der akrobatische Teil immer am besten gefallen. Also beschlossen ein Freund und ich gemeinsam zu üben. In Graz gab es keinen Ort, an dem man üben oder Akrobatik lernen konnte. Also haben wir einfach angefangen, es selbst zu machen. Wir mieteten einen Raum zum Trainieren und luden andere Leute ein zu kommen und die Kosten zu teilen. Dann baten uns sie Leute, sie zu unterrichten und so fing alles an.“
Kerstin verliebte sich in das Spielen mit Handständen und Akrobatik und wollte es in ihren Alltag integrieren, als sie nach Berlin zog. „Ich hatte mal einen normalen Job. Ich arbeitete als Journalistin, unterrichtete Akrobatik und trat in meiner Freizeit auf. Aber es ist wirklich schwer, etwas zu tun, wenn man nicht seine ganze Zeit hineinstecken kann. Denn so steckt dein Kopf zwischen zwei Dingen und du kannst dich nicht auf eins konzentrieren. Also ich wurde ich letzten Januar hauptberufliche Performerin und Lehrerin.“
Partnerakrobatik ist Kerstins Leidenschaft und sie tritt auf der ganzen Welt auf. Sie bezieht die Bedeutung der Teamarbeit in ihre Handstand-Workshops mit ein und schafft eine Atmosphäre, in der sich Menschen treffen und miteinander in Kontakt treten können.
Der zweite Teil unseres Workshops besteht aus der Königsdisziplin für heute, des freien Handstands. Ich musste mich gedanklich also schon mal von der Wand verabschieden. Weil Caroline und ich bereits etwas Vertrauen aufgebaut haben, bin ich zuversichtlich, dies mit ihr gemeinsam zu schaffen. Mein erster Versuch ist ein Misserfolg, aber beim zweiten Versuch schwinge ich meine Beine hoch und mit Carolines Hilfe und der Ermutigung von Kerstin stehe ich auf meinen Händen.
Das ganze Blut steigt mir zu Kopfe, aber meine Schultern sind sicher. „Jetzt lockere deine Füße und bewege sie!“ sagt Kerstin. Ich folge ihren Anweisungen, aber verliere das Gleichgewicht und komme zurück auf den Boden. Aber das ist in Ordnung für mich – ich habe genug für meine erste Handstand-Lektion.
Wir beenden den Workshop mit einem sehr lustigen Partner-Stretching. As wir aus dem Kursraum gehen, frage ich Kerstin, warum sie sich entschieden hat, diesen Kurs zu geben. „Als Kind haben alle Handstand gemacht“, erklärt sie. „Es hat so viel Spaß gemacht und gibt so viel Adrenalin. Aber wenn wir erwachsen werden, vergessen wir leider diese Einstellung zum Spielen. Deshalb tue ich das hier. Damit die Menschen den Raum haben wieder Kind zu sein und ihren Körper auf eine andere Weise zu erforschen.“
Sie hat Recht. In der U-Bahn nach Hause kann ich nicht anders, als vor Begeisterung zu lachen. Ich habe heute wirklich einen Handstand gemacht!
Wenn du lernen möchtest, wie man einen Handstand macht, besuche Kerstins Workshop im Studio 58.
Dazu hat der Urban Sports Club einige Akrobatik-Partner in Deutschland, Frankreich, Italien Portugal und Spanien. Wirf einen Blick auf unsere Webseite, um einen Partner in deiner Nähe zu finden.
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